Im Konflikt südkoreanischer Ideologien
Ein Soziologe aus Münster kehrt nach Jahrzehnten in seine Heimat zurück - und wird dort der Spionage für Pjöngjang bezichtigt / Von Anne Schneppen
SEOUL, 7. Oktober. Als Song Du-yul am 22. September nach 37 Jahren im deutschen Exil erstmals wieder südkoreanischen Boden betrat, wurde er herzlich willkommen geheißen. Am Flughafen Incheon wartete eine Delegation der Koreanischen Stiftung für Demokratie auf den 58 Jahre alten Münsteraner Hochschullehrer, der mit seiner Frau und den beiden Söhnen aus der Lufthansa-Maschine stieg. Es schien wie das glückliche Ende einer langen Odyssee.
Als Gegner der Militärdiktatur, die in Südkorea bis in die achtziger Jahre herrschte, setzte sich Song noch aus der Ferne für die Demokratiebewegung in seiner Heimat ein, wurde für viele südkoreanische Linksintellektuelle zu einer Art Galionsfigur. In Deutschland, wo er Philosophie und Soziologie studiert hatte, machte sich Song, der bei Habermas promoviert wurde, einen Namen als Wissenschaftler. Die südkoreanische Militärführung hatte schon 1967 ein Einreiseverbot gegen ihn verhängt. Nun folgte er einer Einladung der staatlichen Demokratiestiftung, wollte Vorträge halten, eine Ehrendoktorwürde entgegennehmen.
Der freundliche Empfang am Flughafen ist längst vergessen, vom Argwohn in den Hintergrund gedrängt. Statt in gemütlicher Runde mit Verwandten sitzt der Heimkehrer seit Tagen im Verhör, erst beim Geheimdienst, jetzt bei der Staatsanwaltschaft. Der Fall Song ist innenpolitischer Zündstoff, der täglich Parlament und Medien beherrscht. Denn der südkoreanische Geheimdienst (NIS) vermutet in Song Du-yul einen ranghohen Agenten im Dienste des kommunistischen Regimes in Pjöngjang. Song, so der Vorwurf, sei in Wahrheit seit 1991 ein Mitglied des Politbüros der nordkoreanischen Arbeiterpartei, unter dem Pseudonym Kim Chol-su stehe er in der nordkoreanischen Hierarchie an 23. Stelle. Diesen Verdacht schürten Aussagen des ranghöchsten Überläufers und einstigen nordkoreanischen "Chef-Ideologen" Hwang Jang-yop. Des weiteren wird Song bezichtigt, von Deutschland aus einen Südkoreaner nach Nordkorea gelockt und von Pjöngjang Geld angenommen zu haben. Insgesamt sei er 18mal nach Nordkorea gereist. Der Partei sei er schon 1973 beigetreten. Song, der seit 1996 deutscher Staatsbürger ist, darf Südkorea derzeit nicht verlassen. Der Bericht des Geheimdienstes umfaßt 2035 Seiten.
Song Du-yul hat die meisten Vorwürfe vehement bestritten, sieht sich, wie er dieser Zeitung sagte, als "Spielball innerkoreanischer Machtkämpfe". Weder sei er mit dem Politbüromitglied Kim Chol-su identisch, noch habe er "zur eigenen Verwendung Geld angenommen", auch habe er den Südkoreaner Oh Gil-nam nicht angestiftet, nach Nordkorea zu gehen. Er fühle sich "in jeder Hinsicht unschuldig". Daß er Parteimitglied wurde, als er - im Zuge seiner "komparativen Sozialismusforschung" - erstmals nach Nordkorea reiste, bestreitet er nicht: In den siebziger Jahren sei es "üblich" gewesen, durch eine Einreise nach Nordkorea automatisch die Parteimitgliedschaft zu erhalten. "Zu keiner Zeit habe ich jedoch aktiv an der dortigen Politik teilgenommen." Von 1992 bis 1994 habe er in Berlin eine Art Forschungszentrum für Nordkorea-Studien geleitet, dafür habe er 60 000 Euro von Pjöngjang bekommen. Die vielen Besuche in Nordkorea erklärt er mit seiner Tätigkeit als Vermittler von Diskussionsforen, die seit Mitte der neunziger Jahre fünfmal in Peking und einmal in Pjöngjang stattfanden. Allein zur Vorbereitung dieser Veranstaltungen sei er elfmal nach Pjöngjang gereist. Widersprüchlich sind seine jüngsten Äußerungen zu der wichtigsten Beschuldigung, er sei Mitglied des nordkoreanischen Politbüros. Einerseits sagt Song: "Dies ist unwahr." Andererseits bekennt er jetzt: "Ich wurde quasi wie ein Politbüromitglied behandelt, aber nicht offiziell als solches benannt."
Ein großer Teil der südkoreanischen Medien, offensichtlich mit Informationen des Geheimdienstes gefüttert, scheint früh zu einem Urteil gelangt zu sein. Die Stimmung kippte schon nach der Veröffentlichung von Fotos, die Song neben Nordkoreas "ewigem Präsidenten" Kim Il-sung zeigten und, nach dessen Tod 1994, bei der Trauerfeier, im innigen Händedruck mit dem nachfolgenden Sohn, Kim Jong-il. Daß Song sich in Nordkorea engagierte, ist offensichtlich. Doch bislang lassen sich weder aus den kolportierten Vorwürfen noch aus Songs häppchenweise servierter, zum Teil verwirrender Verteidigung klare Schlüsse ziehen, wie weit dieses "Engagement" tatsächlich ging.
Das Verfahren, mit dem Song in die Mangel genommen wird, hat indes Kritik verdient. Songs Anwalt wurde, entsprechend koreanischer Praxis, nicht zu den Verhören zugelassen, ihm wurde auch keine Einsicht in die Akten gewährt. Songs Angaben zufolge war ihm die Anwesenheit eines Anwalts vor der ersten Sitzung zugesichert worden. Die Verhöre des Geheimdienstes dauerten zehn bis 15 Stunden, wurden von zehn sich jede halbe Stunde abwechselnden Personen geführt. Erst "auf massiven Druck" der deutschen Botschaft habe er am ersten Tag nach 13 Stunden Verhör in sein Hotel zurückkehren dürfen. Songs Frau spricht angesichts der Methoden schon "von einer Art Folterung". Song kam nicht ohne Vorwarnung nach Südkorea. In Berlin wurde er vom deutschen Botschafter in Südkorea darüber informiert, daß seine Einreise Schwierigkeiten bringen könnte und ein gültiger Haftbefehl gegen ihn vorliege.
Im Fall des Münsteraner Soziologieprofessors geht es um mehr als seine Person. Er ist ein Katalysator für einen Konflikt von Ideologien: Steht man gegenüber Nordkorea noch im Kalten Krieg, oder folgt man der von Kim Dae-jung initiierten Entspannungspolitik? Immerhin hat am Montag erstmals eine große südkoreanische Reisegruppe die innerkoreanische Grenze auf dem Landweg überschritten, fuhr zur Eröffnungsfeier einer überwiegend vom Hyundai-Konzern finanzierten Sporthalle. Auf der anderen Seite hat noch immer das anachronistische Nationale Sicherheitsgesetz Gültigkeit, das noch aus den Zeiten der Diktatur stammt und jegliche den "Feind begünstigende" Handlung unter Strafe stellt. "Für konservative Antikommunisten ist Professor Song ein großer Spion, der eine harte Strafe verdient. Für liberale Wiedervereinigungsbefürworter ist der Soziologe aus Deutschland ein Opfer der ungewollten koreanischen Teilung und der Repressionen im Süden, jemand, der jetzt von seinem Mutterland wärmstens empfangen werden sollte", schrieb der "Korea Herald" in einem Kommentar.
In dieser polarisierenden Auseinandersetzung sind Songs Gegner lauter als seine Befürworter, die Konservativen nutzen seinen Fall, um die Regierung vorzuführen, die sie als zu nachgiebig gegenüber Pjöngjang empfinden. Aus der oppositionellen Großen Nationalpartei (GNP), die im Parlament die Mehrheit hat, wird gefordert, mit Song hart ins Gericht zu gehen: Ließe man ihn ziehen, wäre dies, als dulde man den Kommunismus in Südkorea, ließ sich ein Abgeordneter vernehmen, überdies habe die Regierung Song geholfen, "Südkorea zu infiltrieren". Ein anderer Parlamentarier sprach von dem "größten Spionagefall in Jahrzehnten".
Der Präsident des Fernsehsenders KBS hat sich unterdessen öffentlich für einen positiven Beitrag über Song entschuldigen müssen. Am Freitag hatte sich auch Präsident Roh Moo-hyun zu Song geäußert: Es gebe mehr Verdachtsmomente als zunächst vermutet. Von einer ursprünglich geplanten Einladung Songs ins Blaue Haus, den Amtssitz des Präsidenten, distanzierte sich Roh. Er habe damit "nichts zu tun". Song Du-yul sieht unterdessen seinem nächsten Termin bei der Staatsanwaltschaft entgegen. In Seoul wird von vielen vermutet, daß am Ende eine Ausweisung erfolgt, um Komplikationen mit Deutschland zu vermeiden.