Spionagevorwurf gegen Song Du-Yul in Südkorea

Die Grenzstadt (Kyongye Doshi)

Von Jochen Hiltmann

Die Götter der Schamanen in Korea sind ortsgebunden, wie die Berge der Provinzen, nah den Verwurzelten und fern den Touristen. Wenn ein Mensch seine Heimat verliert, dann verliert er seinen Gott. Das dachte man auch in der Antike! In der unruhigen Zeit nach den Peloponesischen Kriegen wurde Sokrates der Gottlosigkeit und des verderblichen Einflusses auf die Jugend beschuldigt. Vor dem Hintergrund politischer Fehden, wurde er zum Tode verurteilt. In solchen Fällen ließ man in der Antike das Exil als Alternative zu. Sokrates lehnte das Exil ab, er unterstrich die Richtigkeit des von ihm geführten Lebens und trank darauf den Schierlingsbecher.

Immer wieder gibt es Ereignisse der Not, die Menschen für lange Zeit aus ihrer „Heimat“ vertreiben. Menschen, die sich dann in einem fremden Gastland brauchbar machen müssen, um dort in der Gesellschaft – zu der sie nicht gehören – als nützlich zu gelten. Oft sind es Menschen, die durch Ausdauer, Fleiß und Hilfsbereitschaft auffallen, Menschen, welche in der Qualifikation ihrer Profession einheimische Mitbewerber mitunter übertreffen. Wiewohl man diese Menschen auch schätzt, müssen sie im Exil ihre Anwesenheit vor den Augen der Neider rechtfertigen, weil die Gesellschaft stets abgrenzt und ausgrenzt.

Prof. SONG, Du-Yul lebt seit 36 Jahren im deutschen Exil und lehrt heute Philosophie und Soziologie an der Universität in Münster. Seinerzeit kam er nach Deutschland, um in Frankfurt sein Studium der Philosophie und Soziologie fortzusetzen. Aufgrund seines Engagements für Demokratie und Menschenrechte während der Militärdiktatur in Südkorea und seinen Bemühungen um eine Versöhnung zwischen Süd- und Nordkorea, durfte er seither nicht in seine Heimat in Südkorea zurückreisen. So lebte er fortan im deutschen Exil. In den letzten 15 Jahren hat er offizielle Einladungen aus Nordkorea angenommen und reiste nach Pjöngjang. 1991 hielt er dort einen Vortrag an der Akademie der Sozialwissenschaften. Später wurde ihm in Südkorea der Tatbestand der Spionage vorgeworfen, beziehungsweise wurde (ihm) unterstellt, er sei Kandidat für das Politbüro der Chosun-Rodong-Dang.

Der Dokumentarfilm von HONG, Hyung-Sook „Die Grenzstadt“, zum Schicksal von Prof. SONG, Du-Yul, wurde 2002 auf dem internationalen Filmfestival Pusan in Korea uraufgeführt und 2003 in Deutschland auf dem Forum der Berliner Filmfestspiele gezeigt. Der Film zeigt konkrete Vorbereitungen des Ehepaares Song für eine Reise nach Südkorea im Jahre 2002. Gerade als die beiden Eheleute sich anschickten das Haus zu verlassen, klingelte das Telefon: Eine persönliche Mitteilung macht dem Ehepaar deutlich, dass SONG, Du-Yul nach der Landung auf dem Flughafen Inchon Schwierigkeiten mit den koreanischen Behörden bekommen werde. Die Heimreise nach 35 Jahren Exil scheitert wieder. Ein Konflikt, der Südkorea seinerzeit unter dem System des „kalten Krieges“ zur Zeit der Militärdiktatur mit dem “Gesetz für nationale Sicherheit“ auferlegt wurde. Dieses Gesetz verbietet südkoreanischen Bürgern den Kontakt mit ihren Landsleuten im Norden.

Der „kalte Krieg“ ging aus den Interessensgegensätzen der Siegermächte des 2. Weltkrieges hervor. Nach dem Koreakrieg haben sich die USA mit der südkoreanischen Militärdiktatur in der Praxis einverstanden gezeigt (In Südkorea stationierte amerikanische Truppen haben dem Massaker in Kwangju im Mai 1980 zugesehen). Das “Gesetz für die nationale Sicherheit“ war ein Instrument im System des „kalten Krieges“. Es wurde 1958 von Syngman Rhee erlassen, variiert und (später) durch Parks „Antikommunistengesetz“ verschärft. Noch heute – viele Jahre nach dem Zusammenbruch des Ostblocks – treibt das Gespenst „Kommunistenfurcht“ seinen Spuk in Südkorea. Das “Gesetz für nationale Sicherheit“ ist noch immer in Kraft! Keine Regierung in Südkorea hat bisher aus der unheilvollen Geschichte dieses Gesetzes Lehren für die demokratische Zukunft des Landes gezogen (entweder diesen Satz mit einem Punkt beenden oder als Frage formulieren: Hat bisher keine Regierung aus der unheilvollen Geschichte...?) Wir erinnern uns an den Fall der Verschleppung und Folterung des Komponisten YUN, Isang 1967. Als Verstoß gegen das oben genannte „Gesetz“ wurden YUN, Isang Kontakte mit Nordkoreanern in der nordkoreanischen Botschaft in Ostberlin und Reisen nach Pjöngjang vorgeworfen. Der Komponist wurde angeklagt, unter dem sozialistischen System für die Wiedervereinigung Nord- und Südkoreas gearbeitet zu haben. Der Geheimdienst versuchte ihm den Tatbestand der Spionage anzuhängen. Für den großen Musiker wurde in Seoul die Todesstrafe beantragt. Ein Schock für die Weltöffentlichkeit. Verurteilt wurde er zu einer lebenslangen Haftstrafe, die dritte Instanz reduzierte die Strafe auf 15 Jahre. Auf Grund von Protesten vieler bedeutender Persönlichkeiten aus verschiedenen Ländern, wurde YUN, Isang nach zwei Jahren aus dem Gefängnis entlassen und ins deutsche Exil ausgewiesen. Über drei Jahrzehnte lebte, lehrte und komponierte der große Musiker im deutschen Exil und bereicherte unsere Kultur. 1995 starb er in Berlin und wurde dort beigesetzt. Seine Heimat in Südkorea hat er sich vergeblich als letzte Ruhestätte gewünscht.

Im November 1995 fand in Berlin im „Konzerthaus“ eine Gedenkfeier für YUN, Isang statt. Auf dieser Feier sprach SONG, Du-Yul die folgenden Sätze: „YUN, Isang erschien die Wiedervereinigung seiner Heimat als ein wunderschöne Geschichte wie die ewige Musik (...) Das ist der Boden, in dem seine Philosophie der Versöhnung verwurzelt ist.“ Zwischen YUN, Isang und SONG, Du-Yul besteht nicht nur eine Gemeinsamkeit zweier Landsleute. Es besteht eine Beziehung gleichsam wie die uralte Verbindung zwischen Musik und Philosophie überhaupt. Die höchste Musik ist die Philosophie, Pythagoras legte den Grund, auf dem die Musik baut, und in der Musik, die so Gestalt gewann, erkannte die Philosophie ihr eigenes Wesen. Wie YUN, Isang vor ihm, hat auch SONG, Du-Yul Kontakte mit seinen Landsleuten in Nordkorea. Wie YUN, Isang arbeitet auch er für die Wiedervereinigung Nord- und Südkoreas. Auf seine Initiative hin finden seit 1995 jährlich Konferenzen in Peking statt, bei denen sich Wissenschaftler aus Nord- und Südkorea zu informellen Gesprächen treffen. Im März dieses Jahres konnte diese Konferenz zum ersten mal in Pjöngjang stattfinden. Die Eröffnungsrede von SONG, Du-Yul wurde vom nord- und südkoreanischen Fernsehen gleichzeitig übertragen.

Das Schicksal von SONG, Du-Yul im deutschen Exil ist nicht mit einer derart grausigen und brutalen Gewaltsamkeit belastet, wie sie zum Beispiel YUN, Isang erlitten hat. Die politische Situation in Südkorea ist heute eine andere. Die Angst vor SONG, Du-Yul wegen möglicher „Unfälle“ seiner Söhne in Südkorea kann ich aber verstehen. Für die jüngere Generation in Südkorea ist SONG, Du-Yul heute eine wichtige Persönlichkeit! Und wird ihm nicht ein „verderblicher“ Einfluss auf die jüngere Generation unterstellt?

Aber in Südkorea hat sich die Demokratie im letzten Jahrzehnt mehr und mehr durchgesetzt. Der Film „Die Grenzstadt“ weist heute auf eine absurde realpolitische Situation hin: Nämlich auf ein demokratisches Land unter einem Gesetz mit Menschenrecht verletzenden, gegen die Demokratie gerichteten Inhalten. Das „Gesetz für die nationale Sicherheit“ verbietet südkoreanischen Bürgern noch immer den Kontakt mit ihren Landsleuten im Norden, während heute ein reger Austausch zwischen Süd und Nord stattfindet, und wohl auch stattfinden soll. Zum Beispiel zwischen Politikern, Sportlern, Christen und Touristen (Tourismus um Kumgangsan). Koreaner im Norden geben Interviews und im Süden werden die Meinungen der „Feinde“ im Fernsehen veröffentlicht. Alles das verbietet das Gesetz (eigentlich). Der Film weist durch die persönliche Geschichte SONG, Du-Yuls auf diesen grundsätzlichen Widerspruch hin. Das macht diesen Film so wichtig. Während der Arbeiten am Film ist die Regisseurin HONG, Hyung-Sook vom südkoreanischen Geheimdienst bedroht worden. Das Gespräch mit den Herren wurde mit versteckter Kamera aufgenommen und in den Film hineingenommen. Der Geheimdienst verlangte von der Regisseurin die Filmproduktion einzustellen, zumindest auf jede politische Stellungnahme in ihrem Film zu verzichten. Anderenfalls hätten alle Beteiligten mit juristischen Konsequenzen zu rechnen. Da haben wir es wieder: das „Gesetz für die nationale Sicherheit“! Die angedrohten juristischen Konsequenzen blieben jedoch aus. Unbehindert konnte der Film gezeigt werden. Das spricht für die demokratische Entwicklung Südkoreas.

SONG, Du-Yul versteht sich als ein „Grenzgänger“, als ein „Border Rider“! Daher der Titel des Films „Die Grenzstadt“. „Ich verstehe mich in dreifacher Hinsicht als Grenzgänger. Zwischen Nord- und Südkorea, aber auch als Philosoph, der zwischen asiatischen und europäischen Denktraditionen seine Heimat gefunden hat. Und schließlich hat mich auch das Exil in Deutschland zum Grenzgänger werden lassen, weil ich hier – mit durchaus kritischer Distanz – miterlebt habe, wie die Teilung des Landes friedlich überwunden wurde. In Korea rührt meine Glaubwürdigkeit als Vermittler wohl daher, das beide Seiten genauestens auch über die negativen Seiten meines Schicksals informiert sind – etwa das ich aus Angst vor „Unfällen“ meinen Söhnen nicht erlauben würde, nach Südkorea zu reisen. Ich bin insofern eben nicht nur ein unbeteiligter Beobachter der Teilung des Landes, ich leide selbst an der Teilung. Gleichzeitig ist meine Außenseiterrolle auch die des produktiven Dritten – ich gehöre zu keiner Gesellschaft mehr, und dadurch entstand eine besondere Lebensaufgabe (...).“ (TAZ-Interview vom 26.4.03 / Magazin Nr. 7039). SONG, Du-Yul beantwortete hier eine Frage, die Dorothee Wenner mit folgendem Hinweis einleitete: „Sie verstehen sich in erster Linie als Philosoph – ein Beruf, der selten mit Realpolitik in Verbindung gebracht wird.“

Gewiss, heute im Westen, in „postmoderner“ Gesellschaft, ist Philosoph ein Beruf, der selten mit Realpolitik in Verbindung gebracht wird. In seinem Text „Moderne und Postmoderne im ostasiatischen Kontext“ weist SONG, Du-Yul darauf hin, dass das Wort „postmodern“ in Korea mit „Houxiandai“ (Spätmoderne) und mit „Talhyundai“ (Überwindung der Moderne) übersetzt wird, und er verweist in diesem Zusammenhang nicht nur auf traditionell geschätzte Tugenden Ostasiens, sondern auch auf griechische Tugenden. Sicherlich ist und war Philosophie nicht identisch mit Politik. Doch die Aufgabe der Philosophie Sokrates war es, seine Mitbürger aufzuklären und die Gesellschaft wach zu halten. Sokrates gehörte zu einer Gesellschaft! Diese wach zu halten brachte ihm den Tod.