Spionagevorwurf gegen Song Du-Yul in Südkorea

Alpträume in Seoul

Der erste Heimatbesuch nach 36 Jahren Exil
wird für den Münsteraner Soziologen Song Du-Yul zur Tortur

Von Rainer Werning

Es hätte eine Rückkehr nach Maß sein können. Stattdessen wurde es zum Spießrutenlaufen für den in wenigen Tagen 60 Jahre alt werdenden Habermas-Schüler Song Du-Yul und seine Familie. Nach 36-jährigem Exil in Deutschland war der Professor mitsamt seiner Familie (allesamt deutsche Staatsbürger) erstmalig seit Juli 1967 in seine Heimat Südkorea gereist. Mehrere hundert Freunde hatten sich am 22. September bei der Ankunft auf dem Seouler Flughafen Incheon versammelt, um den Heimkehrern einen gebührenden Empfang zu bereiten. Song Du-Yul war langjährig so etwas wie ein Stichwortgeber und Mentor der außerparlamentarischen Opposition und einer der vehementesten Kritiker der langjährigen Militärdiktatur in Südkorea. Das soll ihm nun nachträglich zum Verhängnis werden.

Song hat zeit seines Lebens nie einen Hehl daraus gemacht, sein wissenschaftliches mit politischem Engagement zu verbinden. Im geteilten Korea sah er auch eine herausfordernde Arbeit darin, den innerkoreanischen Dialog zu fördern und somit die starre Staatsapologetik in Nord wie Süd aufzulockern. Mehrfach reiste Song in die Volksrepublik, traf dort unter anderem auch mit führenden Persönlichkeiten der Nomenklatur zusammen. Doch im Vordergrund stand der akademische Austausch zwischen beiden Ländern. So konnte immerhin im Frühjahr dieses Jahres zum sechsten Mal ein solcher Austausch zwischen renommierten Sozialwissenschaftlern aus beiden Landesteilen in der nordkoreanischen Hauptstadt Pjöngjang stattfinden.

All diese Aktivitäten waren und sind den rechten und konservativen Kräften in Südkorea, die nach wie vor in Politik und Gesellschaft beträchtlichen Einfluss ausüben, ein Dorn im Auge. Als gelte es, sich nunmehr an ihrem ideellen Gesamtfeind zu rächen und Songs Reputation zu zerstören, wurde dessen bisheriger Aufenthalt in Seoul zum veritablen Alptraum. Zugesagte Vorträge in anderen Städten, gar die Entgegennahme der Ehrendoktorwürde in Kwangju konnte Song nicht wahrnehmen, weil er faktisch unter Stadtarrest gestellt wurde. Tagelange Verhöre beim National Intelligence Service (NIS), der früheren KCIA, und bei der Staatsanwaltschaft in Seoul sollten letztlich den Beweis erbringen, dass Song ein „bezahlter Agent Nordkoreas“ sei. Laut NIS soll Song unter anderem 1973 der nordkoreanischen Partei der Arbeit beigetreten, 1991 in deren Politbüro aufgenommen und in dessen Hierarchie auf Rang 23 geführt worden sein. Als Anhänger des 1994 verstorbenen Staats- und Parteichefs Kim Il Sung habe Song Nordkorea 18mal bereist und insgesamt auch etwa 150.000 US-Dollar an Geldern aus der Volksrepublik erhalten. Diese „Erkenntnisse“ übermittelte der NIS sodann dem Ausschuss für nachrichtendienstliche Tätigkeiten in der Nationalversammlung, wo vor allem die oppositionelle Große Nationalpartei (GNP) sie als gefundenes Fressen aufschnappte, um sowohl die Regierung in Pjöngjang als auch legitimen Dissens gegen die frühen Militärdiktaturen in Südkorea zu diskreditieren. Im neuerlich eskalierten Atomkonflikt mit der Volksrepublik setzen die GNP und die ihr nahestehende Medienkamarilla alles daran, die innenpolitisch brodelnde „Affäre des Dissidenten Song“ politisch zu instrumentalisieren. Schließlich sind im nächsten Frühjahr Parlamentswahlen.

Und was Seouls Mainstream-Medien dann inszenierten, kam einer südkoreanischen Variante des McCarthyismus gleich. Gerüchte wurden als Tatsachen hingestellt, die Unschuldsvermutung des Beschuldigten bis zum Beweis des Gegenteils artete in eine üble Vorverurteilung und Ehrabschneidung aus, was Song und seiner Familie Morddrohungen einbrachte. Songs Rechtsanwalt Kim Hyung Tae durfte bei den Verhören nicht einmal anwesend sein. Und das in einem Land, das der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) angehört und nach wie vor im Bedarfsfall auf das anachronistische, bereits aus dem Jahre 1948 datierende Nationale Sicherheitsgesetz zurückgreift. Demnach droht Song eine Haftstrafe oder, wenn Seoul es vorziehen sollte, diplomatisch-politische Spannungen mit Berlin zu vermeiden, die Deportation. Mittlerweile gerät selbst die größte Sendeanstalt des Landes, das Korea Broadcasting System (KBS), in die Schusslinie. Das „Verbrechen“ des Senders: Er hatte kürzlich einen Film über Song gezeigt, den die Kalten Krieger in Seoul als „zu wohlwollend“ für den Inkriminierten bewerten.

Songs jüngstes Werk in deutscher Sprache erschien 2002 im Kölner PapyRossa Verlag unter dem Titel Schattierungen der Moderne – Ost-West-Dialoge in Philosophie, Soziologie und Politik.
Der Autor ist dem Kollegen Song durch enge persönliche Freundschaft und gemeinsame Publikationen verbunden. Im Oktober 2002 und im Juni 2003 vertrat er Song auf internationalen Konferenzen in Südkorea.