Gefangen unter Freunden (ZEIT, 8.8.04)
Der Münsteraner Philosoph Song Du-yul, ein Brückenbauer zwischen Nord- und Südkorea, sitzt in Seoul in Einzelhaft. Die letzte Hoffnung des angeblichen Spions: Politische Hilfe aus Deutschland. Von Georg Blume, Seoul
Durch Drahtgitter und Plexiglasscheibe blickt ein zerfurchtes Professorengesicht, das sich zu einem gequälten Lächeln verzieht. »Wie kann man auf drei Quadratmetern kreativ denken?", fragt Häftling Nummer 65 im Seouler Guchiso-Untersuchungsgefängnis. Der Münsteraner Philosophie-Professor Song Du-yul will vernünftig klingen. Schließlich hat Song einst bei Jürgen Habermas promoviert, dem großen Lehrer der kommunikativen Vernunft, der heute für seine Freilassung Unterschriften sammelt.
Also bleibt Song auch im Gefängnis Vernunftmensch. Also spricht er mit dem Besucher über das bevorstehende Wintersemester in Münster, wo er seine Studenten in »Raumsoziologie« unterrichten wolle. Dann werde er aus eigener Erfahrung berichten können, wie der Mensch reagiere, wenn er auf kleinstem Raum und bei Neonbeleuchtung rund um die Uhr, ausgestattet mir mit einer Decke für die Nacht, ohne Heizung im Winter, ohne Kühlung im Sommer bei extremen Temperaturen überleben müsse. Song versucht das seit neun Monaten. "Ich kann nicht mehr auf dem Boden sitzen. Ich wünsche mir einen Stuhl", sagt er. Doch den bekommt er nicht, aus Gründen der Gleichbehandlung, sagt die Gefängnisleitung. Also denkt Song im hellblauen Sträflingsanzug ans Wintersemester in Münster. Das ist sein Traum. In Wirklichkeit liegen vor dem 59Jährigen weitere sechseinviertel Jahre Einzelhaft. Wenn nicht noch etwas passiert.
Denn sieben Jahre Haft, so lautet das Urteil gegen Song. Sieben Jahre, das ist die Strafe, die sich nach Auskunft von Songs Verteidiger auch im Berufsverfahren kaum noch mildern lassen wird – trotz weltweiter Proteste von Menschenrechtsorganisationen. Laut amnesty international ist Song derzeit der einzige Deutsche in politischer Gefangenschaft. Der neue Menschenrechtsbericht der US-Regierung wertet seinen Fall als gravierenden Menschenrechtsverstoß in Südkorea. Doch die Bundesregierung schweigt sich über sein Schicksal öffentlich aus. Wer, außer Habermas und seinen Mit- Unterzeichnern, kennt hierzulande Song Du-yul?
1967 kam er als junger Philosoph nach Deutschland, 1993 erhielt er die deutsche Staatsbürgerschaft. Song war geflohen und auf . der Suche. Weg von der damaligen Diktatur in Südkorea, hin zur westlichen Denkart. Schon bald ließ Habermas ihn über die Asien-Auffassung von Hegel und Max Weber promovieren. Mitte der siebziger Jahre entdeckte Song den »systemimmanenten Forschungsansatz« von Peter Christian Ludz. Er wandte ihn allerdings nicht auf die DDR, sondern - als Erster überhaupt - auf Nordkorea an. Das bedeutete, den Norden aus sich selbst heraus und nicht im Vergleich mit dem Süden zu analysieren. Song wollte Brückenbauer sein. Daheim in Südkorea, wo seine meisten Arbeiten veröffentlicht wurden, brachte ihm das auf Dauer ebenso viele Gegner wie treue Anhänger ein. Für seine Forschungen besuchte er regelmäßig Nordkorea. Um die nötigen Visa zu erhalten, musste er der nordkoreanischen Arbeiterpartei beitreten und setzte sich damit dem Verdacht aus, ein Freund des dortigen Regimes zu sein. Zwar war er zu Hause als jahrzehntelanger Unterstützer der südkoreanischen Demokratiebewegung im Exil bekannt. Doch erst seine brutale Inhaftierung - die Staatsanwaltschaft ließ Song, in Stricke gebunden, vor die Kameras führen - erregte im vergangenen Herbst die Öffentlichkeit. Die Zeitungen berichteten vom »größten Spion, der jemals gefangen wurde". Wochenlang füllte sein Fall die Spalten der Titelseiten.
Der Geheimdienst legte einen 2000 Seiten langen Bericht über Song vor. Er sei Politbüromitglied der Arbeiterpartei Nordkoreas gewesen und habe enge Beziehungen zur Führung in Pjöngjang unterhalten. So lauteten die unbewiesenen Vorwürfe. Ein Seouler Strafgerichtshof verurteilte Song im April 2004 zu sieben Jahren Freiheitsstrafe, wenngleich sich die Anschuldigungen gegen ihn keineswegs erhärten ließen. Nun wird der Oberste Gerichtshof in Seoul am 21. Juli das Berufungsurteil sprechen. Außer einer Hand voll Bürgerinitiativen, die Songs Freilassung fordern, scheint sich niemand mehr für den Fall zu interessieren. In seiner Not haben Song auch die vielen regierungsnahen Linksaktivisten verlassen, die ihn im vergangenen September als Spiritus Rector der so genannten Sonnenscheinpolitik gegenüber Nordkorea ins Land zurückholten. Denn noch immer gilt in Südkorea das von Menschenrechtsorganisationen seit langem kritisierte Nationale Sicherheitsgesetz aus dem Jahre 1948, das alle nichtautorisierten Kontakte zum feindlichen Norden unter hohe Strafen stellt.
Das Gesetz erlaubt, Song wie einen Schwerverbrecher zu behandeln. Als seine Frau Song Chong-hae, die wie ihr Mann die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, ihn am letzten Verhandlungstag des Berufungsverfahrens im Gerichtssaal zu umarmen versucht, reißen Sicherheitskräfte das Paar auseinander. Die Familie ist verzweifelt. Song wirke zunehmend elend und niedergeschlagen, berichten die Ehefrau und die beiden erwachsenen Söhne. Er leide an Asthma, hohem Blutdruck und den Folgen einer schweren Operation. Die Haftbedingungen seien in seinem Alter und bei seinem Gesundheitszustand lebensbedrohlich.
Noch im vergangenen Herbst forderte der südkoreanische Präsident Roh Moo-Hyun Milde für Song, seine Justizministerin verlangte gar seine Freilassung. Dann aber verlor der Entspannungspolitiker Roh die öffentliche Auseinandersetzung um Song. Das Fernsehen zeigte Bilder vom Begräbnis des ehemaligen nordkoreanischen Staatsführers Kim Il-Sung im Jahr 1994, auf denen Song in Gegenwart von dessen Sohn, dem heutigen Diktator Kim Jong-Il, Tränen vergoss. Auf der Trauerliste für Vater Kim stand Songs Name an 23. Stelle. Daraus folgerte der Geheimdienst, dass Song Politbüromitglied gewesen sei. Ein Überläufer konnte das geheime Parteiamt angeblich bestätigen. Zudem würde berichtet, Song sei schon seit den siebziger Jahren Parteimitglied im Norden gewesen und habe zwischen 1991 und 1994 von der nordkoreanischen Regierung 60 000 Dollar erhalten.
Damit war das Bild vom »Meisterspion« perfekt. Konservative Medien und Politiker nutzten, den Fall Song zur politischen Mobilisierung gegen den entspannungsfreundlichen Präsidenten Roh. Zwar unterlagen die Konservativen bei den Parlamentswahlen im April, doch hüten sich Roh und seine siegreiche Uri-Partei seither, das heiße Eisen Song anzufassen. Drei Uri-Abgeordnete lehnten eine Interview-Anfrage der ZEIT ab.
Tatsächlich ist der deutsche Professor eine Schlüsselfigur der koreanischen Wiedervereinigungsdebatte. Seiner nie bestrittenen nordkoreanischen Parteimitgliedschaft stimmte Song einst als Vorbedingung für die Einreiseerlaubnis zu. Seit den siebziger Jahren hat er Nordkorea mehr als 20-mal besucht. Doch sagt er heute im Gefängnis: »Ich war nie Kommunist und habe mich nie mit der nordkoreanischen Führung identifiziert. » Seine Teilnahme am Begräbnis von Kim Il-Sung wollte Song ursprünglich absagen, nahm dann aber auf Drängen von Freunden als »einziger Vertreter Südkoreas« teil. »In dem Moment war er gerührt und hat geweint«, erklärt seine Frau die belastenden TV-Bilder. Sie sieht in den Tränen ihres Mannes einen Ausdruck koreanischer Höflichkeit, nicht politischer Zustimmung. Ähnlich erklärt sie die Entgegennahme der 60 000 Dollar: Ihr Mann habe damit die Korea-Bibliothek eines verstorbenen Freundes in Deutschland retten können, eine politische Kompromittierung sei ausgeschlossen. Warum aber stand sein Name dann so weit oben auf der Trauerliste? »Ich war damals der Einzige im Ausland, der die Nordkoreaner verstand. Deshalb hatten sie großen Respekt vor mir«, antwortet der Angeklagte aus der Zelle.
Brent Choi bestätigt das. Der Nordkorea-Spezialist der konservativen Tageszeitung JoongAng Ilbo gehört zwar heute zu den vehementesten Kritikern Songs in Südkorea. »Nordkorea hat Song als Symphatisanten im ideologischen Kampf benutzt, auch wenn das nicht in Songs Absicht lag«, urteilt Choi, dem der gesamte Geheimdienstbericht vorliegt. Doch räumt er zugleich Songs bedeutsamen Einfluss in den neunziger Jahren ein. »Unser Nordkorea-Bild war vollständig erstarrt. Song öffnete unseren Blick mit seiner >Theorie des immanent kritischen Ansatzes. Wir sollten, sagte diese Theorie, alle bisherigen Urteile ablegen, um das nordkoreanische System aus seiner inneren Logik heraus zu verstehen. Das war damals brandneu«, berichtet Choi. Er selbst setzte sich dafür ein, dass seine Zeitung zum offiziellen Träger der Konferenzen wurde, die Song von 1995 an alljährlich in Peking organisierte. Erstmals seit Ende des Korea-Krieges trafen sich hier Süd- und Nordkoreaner zu Nichtregierungsgesprächen.
So war Song in Wirklichkeit ein Grenzgänger, jahrelang hilfreich bei der Annäherung der beiden Landesteile. Umso mehr benötigt er als Deutscher die Hilfe der Bundesregierung. Die sollte endlich ihre offizielle Haltung aufgeben, es gebe zwischen Berlin und Seoul kein Problem Song. Eine Abschiebung nach dem 21. Juli ist denkbar, aber nur, wenn Berlin auf die Regierung Südkoreas gehörigen politischen Druck ausübt.