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Die Wahrheit soll nicht untergehen: Südkoreas investigativer Journalismus im Aufwind

Anlässlich des zweiten Jahrestags nach dem Vorfall der Sewol-Fähre in Südkorea luden der Korea Verband in Kooperation mit der ehrenamtlichen Aktionsgruppe Sewol Berlin zur Veranstaltung »Die Wahrheit soll nicht untergehen: Südkoreas investigativer Journalismus im Aufwind« ein. Die Veranstaltung fand am 15. April 2016 in der Werkstatt der Kulturen in Berlin statt. Das Hauptprogramm bildete ein Vortrag des eigens aus Südkorea angereisten Kihoon Choi vom investigativen Nachrichtensender Newstapa. Außerdem gab es Gelegenheit für Nachfragen aus dem Publikum unter fachmännischer Moderation von Christian Humborg, dem Geschäftsführer von CORRECT!V, dem ersten gemeinnützigen Recherchezentrum im deutschsprachigen Raum. Ein Rahmenprogramm mit Musik, Kunst und einer Zeremonie zum Gedenken der Opfer des Sewol-Unglücks schloss sich dem informativen Teil des Abends an. Anschließend hatten Gäste, Publikum und Veranstalter noch die Möglichkeit, sich bei koreanischen Fingerfood und Getränken zu unterhalten.

„Kartell des Schweigens“ in südkoreanischer Medienlandschaft

Vor dem Hintergrund des nach wie vor ungeklärten Schiffsunglücks der Sewol vom 16. April 2014, bei dem 304 Menschen ums Leben kamen, bot die Veranstaltung mehrere Gründe, sich mit kritischen Fragen, aber auch demokratisch fortschrittlichem Gedankengut auseinanderzusetzen. Beim Vortrag von Kihoon Choi ging es darum zu zeigen, wie stark die Medien in Südkorea durch bestimmte, in der Macht stehende Gruppierungen beeinflusst werden. Die großen Rundfunkanstalten zeichnen sich durch eine klare Dominanz in den Vorständen an Mitgliedern der Regierungspartei gegenüber der Oppositionellen aus. Dies wirkt sich stark auf die Selektion der Themenagenda, sowie auf die Darstellung der Berichte aus. Die Nachrichten in Südkorea, die hauptsächlich über drei große Fernsehsender und drei Zeitungen konsumiert werden, halten sich an die konservative Leitlinie der regierenden Partei. Die Atmosphäre innerhalb der großen Medienhäuser leidet unter dem politischen Druck, was einen Verlust unabhängiger und objektiver Berichterstattung zur Folge hat. Letztendlich verliert der Journalismus als „vierte Gewalt im Staat“ seine Funktion, da er nur noch wiederkäut, was von Staat und Lobby gewollt ist.

Die demokratisch rückschrittliche Politik in den südkoreanischen Nachrichtenhäusern nahm unter der konservativen Lee Myung-bak-Regierung zu, als eine Zusammenlegung verschiedener Medienformate zu spartenübergreifenden Medienanstalten erlaubt wurde. Dies war quasi der Freifahrtschein für einzelne Personen oder Unternehmen, gleich mehrere Medien, wie um Beispiel Zeitung, Fernseh- und Radiosender unter demselben Dach zu vereinen und damit eine sehr große Reichweite des Publikums zu erschließen. Die Folgen der Einführung des „Cross-ownerships“ von Medieninstitutionen führten in der Praxis zu einem „Kartell des Schweigens“, so Choi. Entgegengesetzt der Zunahme an Unrecht und Korruption in politischen und wirtschaftlichen machtvollen Kreisen, schwand die Kontrollfunktion der Medien stetig. Dies ging mit einer Verschlechterung der Lebensqualität der koreanischen Bevölkerung einher.

Korean Center for Investigative Journalism – die erste gemeinnützige investigative Medieninstitution in Asien

Aus der Unzufriedenheit in der Medienbranchen, wo die Freiheitsbeschneidungen anhand der Arbeitsmethoden deutlich spürbar waren, keimte der Wunsch auf, tiefgehenden Journalismus zu betreiben, der über das berichtet, was in der medialen Öffentlichkeit sonst ausgelassen wurde. Journalismus, der keine Wahrheit anerkennt, solange er keine Beweise dafür hat. Und, Journalismus im bürgerlichen Auftrag, nicht zugunsten politischer oder wirtschaftlicher Geldgeber. Fast ohne finanzielle oder materielle Mittel gründete eine kleine Gruppe entlassener Journalisten das Korean Center for Investigative Journalism (KCIJ) – die erste gemeinnützige investigative Medieninstitution in Südkorea, beziehungsweise, in Asien. Durch einen monatlichen Mitgliedsbeitrag konnten sie das Nachrichtenformat „Newstapa“ ins Leben rufen. Seitdem publiziert Newstapa mindestens einmal pro Woche eine Podcast-Sendung im Internet.

Die Mitgliedsfinanzierung ermöglicht es den Journalisten in eigener Sache Themen auszuwählen, die sie für wichtig halten und diese an die Öffentlichkeit zu bringen. Ihr Fokus liegt dabei auf der Enthüllung schwerwiegender Skandale aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Bemüht, in ihre Arbeit objektiv zu verrichten, verfolgen sie in ihrem Grundsatz Parteilosigkeit und stehen der Annahme von Spenden ablehnend gegenüber. Im Gegensatz zu den üblichen Nachrichten, die eine Breite an Informationen publizieren, konzentriert Newstapa sich auf den Tiefgang und die Ausdauer, die ausgewählten Fälle bis zur Aufklärung (sollte es eine geben) kritisch im Fokus zu behalten. Newstapa funktioniert als transparente und für die Allgemeinheit zugängliche Plattform zur Informationsverbreitung über das Internet. Wie Choi betonte, ist die „Kraft der kollektiven Intelligenz“ eine Stärke der Arbeitsweise des KCIJs. Es geht nicht darum, auf hierarchische Strukturen zu pochen, sondern Ideen der gesamten Crew gleichwertig zu prüfen und zu behandeln.

Wachsende Bedeutung des Non-Profit-Journalismus für das Gleichgewicht in der Gesellschaft

Das Konzept von Newstapa scheint aufzugehen: Nach der Berichterstattung über Schummeleien bei den südkoreanischen Präsidentschaftswahlen 2012 schoss der Mitgliederindex von einigen tausend auf knapp 30.000 Abonnenten schlagartig in die Höhe – offenbar ein Zeichen des Vertrauens der Bevölkerung in diese neue Form des Journalismus in Südkorea. Erneut einen deutlichen Zuwachs an Mitgliedern erzielte die Berichterstattung über den Sewol-Fall. Hiernach folgten keine merklichen Veränderungen mehr und mit ca. 36.000 Abonnenten im März 2016 konnte sich das KCIJ einen Stamm regelmäßiger Rezipienten aufbauen.

Der Sewol-Fall legt die Bedeutung der Arbeit des Non-Profit-Journalismus-Büros offen. Von Beginn an stellte Newstapa mit seiner investigativen Recherche die von den großen Medienanstalten herausgegebenen Unwahrheiten richtig und zog dabei keinen Erfolg aus emotional begründeten Skandalmeldungen. Als mit der Zeit das Interesse an der Sewol und den Hinterbliebenen, die nach wie vor auf eine faire Aufklärung des undurchsichtigen Falls hofften, abnahm, blieben die Journalisten des KCIJs am Ball. Zum Teil geht es wohl auf die Newstapa-Sendungen zurück, dass der verzweifelte Kampf der Hinterbliebenen der Sewol-Opfer in einer medialen Teilöffentlichkeit nach wie vor ein präsentes Thema bleibt. Die konservativen Medien, die ihr Fähnchen nach dem Wind hängen, haben längst eine neue Richtung eingeschlagen, die mit einem kritischen Fingerzeig auf die Verstimmungen der Sewol-Angehörigen reagieren. Choi betonte, dass Newstapa am Sewol-Fall dran bleiben werde, und dass sie weiterhin vorhaben, sich für die Richtigstellung der Wahrheit in dem komplexen Fall einzusetzen – für die Sewol-Familien, aber gleichzeitig auch für alle Einwohner Südkoreas, denn der Sewol-Fall zeigt exemplarisch Unrecht und Schwachstellen, die das Gleichgewicht der gesamten Gesellschaft zum Schwanken bringen.

Gedenken an die Opfer des Sewol-Unglücks

In der zweiten Hälfte des Abends rührten Auszüge aus Gustav Mahlers „Kindertotenlieder“, gesungen von Sue Baek in Klavierbegleitung von Minsang Cho, an der emotionalen Tragfähigkeit des Publikums. Während der musikalischen Darbietung wurde eine viele Meter lange Schriftrolle entrollt, auf der einzeln alle Namen der 304 ums Leben gekommenen Opfer des Sewol-Unglücks in koreanischer und englischer Schrift aufgeschrieben sind. Außerdem legten die Publikumsbesucher bei einem Gang zum errichteten Gedenkaltar weiße Chrysanthemen nieder, ein Zeichen der Trauer im Andenken an die zu früh aus dem Leben Gerissenen, unter denen sich 250 Oberstufenschüler befanden. Hye-Ri Yangs Portraitserie „17 Sekunden“ lud weitere Besucher dazu ein, 17 Sekunden ihrer Zeit vor der offenen Linse der Kamera der Künstlerin zu verweilen, um damit Teil ihres Kunstprojekts zu werden. 17 Jahre war das Durchschnittsalter der verunglückten Schüler an Bord der Sewol; 304 Menschen will sie portraitieren, knapp 200 Portraits sind bereits entstanden. Viele davon waren in der temporären Ausstellung während der Veranstaltung zu sehen.

„Die Wahrheit soll nicht untergehen“ wird auch Thema in der nächsten Veranstaltung am 6. Mai sein, zu der Vertreter der Angehörigen des Schiffsunglücks aus Südkorea anreisen und mit dem Publikum über ihren Aktivismus sprechen werden. „Südkoreas investigativer Journalismus im Aufwind“ hat den Sewol-Fall für das hiesige Publikum neu aufgewickelt, zudem konnte im Rahmen der Veranstaltung auf die Symbol-Wirkung einer investigativen und gemeinnützigen Arbeitsweise im Journalismus aufmerksam gemacht werden. Dieser Gedanke muss nicht allein für Südkorea gelten, sondern kann stellvertretend auf die gegenwärtigen komplexen gesellschaftlichen und globalen Verhältnisse angewendet werden.

Ein Beitrag von Mira Krebs

Videos zur Veranstaltung

Saebom Kim von der Aktionsgruppe Sewol Berlin und Kihoon Choi von Newstapa haben Videos zur Veranstaltung erstellt, die wir an dieser Stelle mit Ihnen teilen wollen.

Video von Saebom Kim:

Video von Kihoon Choi:

Weiterführende Links

Alle Fotos in diesem Beitrag sowie das Titelbild wurden von Tsukasa Yajima zur Verfügung gestellt.